Kritik:
Filme wie The
War Zone sind es, die mich auch nach Jahren des Konsums
immer neuer "actionreicher" Tiefpunkte der
Filmgeschichte doch wieder an die aufklärerische Kraft
des Kinos glauben lassen. Der britische Schauspieler Tim
Roth, den meisten vielleicht aus Reservoir Dogs oder
Pulp Fiction bekannt, legt mit seinem Regiedebüt
eine so kunstvolle, behutsame und einfühlsame, aber
gleichzeitig so erschütternde und eindringliche
Umsetzung des äußerst schwierigen Themas Inzest
hin, daß der Zuschauer am Ende fassungslos im Sessel
sitzen bleibt, abfahrenden Straßenbahnen, verpaßten Terminen und ungeduldigen Begleitern zum Trotz.
Die rauh
von Gischt umspülten Felsen, die die südliche
Küste Englands zerklüften, den stetig auf karge
Wiesen prasselnden Regen, steinige Wege in dunkler Nacht und
einen aus dem Weltkrieg übriggebliebenen einsamen
Bunker zeigt Roth in so schön gefilmten, kalten, blauen
Bildern, daß jede Wärme aus dem Herzen flieht.
Die unwirtlichen Schauplätze und das dunkelblaue Set-
und Kostümdesign stehen, etwas prätentiös
künstlerisch ist das manchmal schon, für die
aufgerissenen Strukturen der scheinbar glücklichen
Kleinfamilie, die aus dem urbanen London aus unbekannten
Gründen nach Devon zog.
Dort bringt
die von Tilda Swinton aus The Beach mutig mit echten
Schwangerschaftsspuren - sie hatte vor den Dreharbeiten
gerade Zwillinge zur Welt gebracht - harmoniebedürftig
gespielte Mutter ein drittes Kind zur Welt. Langsam
paßt sich die Familie dem neuen Mitglied an, und in
was für langsamen, beobachtenden, realistischen und
subtilen Bildern das gezeigt wird, das muß man schon
selbst gesehen haben. Ständig klingelt das Telefon, und
der umtriebige, scheinbar liebevolle Vater erledigt mit
etwas schwer zu verstehendem Akzent seine Geschäfte,
während sein schlaksiger Sohn mit Pickeln und anderen
Pubertätsproblemen zu tun hat, hervorragend linkisch,
mit unterdrückten Emotionen und fast ungeschminkt vom
jungen Freddie Cunliffe gespielt. Durch Zufall sieht er, wie
sein Vater seine ältere Schwester vergewaltigt, ganz
wunderbar nahegehend verängstigt und verstört von
der ebenfalls noch unbekannten Lara Belmont gespielt. Weiter
beobachtet er mit unbewegter Miene, und mit sparsam
eingesetzter, aufwühlender Musik kommt er langsam
hinter die Fassade heilen Familienlebens, die der Vater
vorgaukelt.
Daß
Tim Roth dabei niemals sensationsheischend wird, heimlich
mit dem Täter sympathisiert oder ihn geifernd zum
Monster stempelt, hebt diesen Film ganz wesentlich von
ähnlichen Werken ab. Fern von plakativen
Schwarz-Weiß-Mustern und alles erklärenden und
ausleuchtenden Dialogen bleibt es hier der Reflexion des
Zuschauers überlassen, wie sehr der Inzest die Psychen
der Familienmitglieder zerstört, warum es dazu kam oder
wieviel die Mutter weiß. Statt brutaler "Kreuziget
ihn"-Anklage zeigt Roth lieber in ganz erstaunlich
expliziten, aber dennoch nie voyeuristischen oder
vorverurteilenden und gerade dadurch besonders bewegenden
und erinnerungswürdigen Szenen, wie der erschreckend
routinemäßige Inzest Opfer, Täter und nach
und nach die ganze Familie zerstört. Die Vergewaltigung
im Bunker, die Selbstverstümmelung der Tochter und
schließlich das erschütternd lakonisch gezeigte
Blut in der Windel geben dem Sohn schließlich die
Kraft, die Taten des Vaters zur Sprache zu bringen. Aber
schon ist es zu spät, zu sehr ist die Familie bereits
zerstört, so daß die Aussprache im Mord enden
muß.
Daß
der Tod des Vaters als Folge der Verwerfungen in dieser zur
Kommunikation und zur Liebe seit langem unfähigen
Familie weder seine verdiente Hinrichtung noch die
reinigende Lösung aller Probleme ist, das zeigt die
letzte Szene noch einmal deutlich, als die Kinder, aller
Worte beraubt, im Bunker kauern und schließlich die
Tür hinter sich zumachen. Davon fliegt die Kamera und
läßt den Zuschauer mit den Bildern des einsamen
Betonklotzes auf den Klippen allein, jeder Auflösung,
jedem fröhlich stimmenden Happy-End und jeder Ilusion
ledig. Denn das Leben kennt kein Ende, so grausam das auch
klingt.
    von 5 Sternen.
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