Kritik:
Ewiger Dank sei
den Hollywood-Restaurateuren! Unbekannte, gute
cineastische Seelen, fortan in meine Gebete eingeschlossen,
brachten fünf lange erbrechtlich gesperrte Filme
Hitchcocks auf, ließen sie liebevoll digital
restaurieren und um verlorengegangene Szenen ergänzen,
um sie sodann, Manna spendenden Göttern gleich, unter
das neuzeitliche Kinovolk zu streuen. Einige dieser Kopien
fanden auch den verschlungenen Weg ins rauhe Germanien und
ermöglichten mir, dem die "Gnade der späten
Geburt" zuteil geworden ist, so, Hitchcocks Werk an dem
einzigen Ort zu sehen, an dem man es sehen sollte: im
Kino.
Natürlich,
für einen von The Matrix und The Fifth
Element visuell beschleunigten Menschen wie mich scheint
das Erzähltempo von Rear Window geradezu absurd
kontemplativ und langsam, dem Hinterhof merkt man manchmal allzu deutlich an, daß er nur im Studio steht, und fehlende
Fäkalworte, Nackte und Blutende lassen den Film ab und
zu wie einen Kindergeburtstag erscheinen, wozu auch der
harmlose Showdown passt.
Mehr als wettgemacht werden diese Zeitgeist-Nachteile
allerdings durch die herrlich bunten Technicolor-Farben, die
wunderbare, in der Story enthaltene Musik, die die
Entwicklung einer Komposition bis zu ihrem Abschluß
verfolgt, und den unglaublichen Detailreichtum der einzelnen
kleinen Teilgeschichten. Wie in einem überdimensionalen
Schaukasten leben die unterschiedlichen Personen, von der
attraktiven "Miss Torso" mit ihren Hotpants über die
einsame "Miss Lonelyheart" mit ihrem Alkoholproblem bis zum
ausdauernden jungen Ehepaar mit so viel Liebe und Humor
vorgestellt, daß man nur staunen kann. Eine einzige
dieser winzigen, allein durch ihre Gesten und Taten
charakterisierten Nebenfiguren hat mehr Persönlichkeit
als fünf moderne Filmhelden zusammen. Ohne ein einziges
Wort aus ihren Mündern zu hören, bekommt der Zuschauer einen
so großen Einblick in das "Leben" dieser Figuren,
daß er sich schon fast ganz voyeuristisch
vorkommt. Bestärkt wird dieser von Hitchcock
natürlich gewollte Eindruck noch dadurch, daß man
fast das ganze Geschehen nur aus der durch interessante
Kamerafahrten nahegebrachten Fensterperspektive des
verletzten Jeff erlebt. Besonders positiv fällt dabei
auf, daß die Nebenfiguren selbst dann in ihren
Aktionen fortfahren, wenn sie nicht mehr im Fokus der Kamera
sind, was zum großen Realismus des Films
beiträgt.
Nicht ganz
realistisch sind allerdings die Schauspieler: so eine
feinnervig-filigrane, humorvolle und genau dosierte
Darstellung wie die von James Stewart gibt es in
Wirklichkeit genausowenig wie die gesamte Person Grace
Kelly. Selbst in der hochgeschlossenen Fifties-Mode strahlt
sie, eine der zurecht großen
Hollywood-Schönheiten, soviel Sex-Appeal, Sympathie und
Wärme aus (und spielt dabei so unglaublich gut),
daß das nicht einmal eine Nacktparade von Neve
Campbell, Julia Roberts und Winona Ryder toppen könnte. Allein die
Szene, in der Grace, "Na, wie seh ich aus?" fragend, ins
wunderbare Nachthemd gekleidet, in Jeffs Zimmer tritt,
sollte ausreichen, um jeden Zuschauer glückselig
lächelnd durch den restlichen Tag stolpern zu lassen.
Ein jeder, den dieser Moment nicht berührt, sollte
nachsehen, ob er nicht vielleicht eine Frau ist oder schon
tot.
Noch dazu ist Rear Window für seine Zeit
geradezu ungewöhnlich freizügig. Neben den
ständigen Spagat-Aufnahmen der knackigen "Miss Torso"
und dem innigen Kuss der Hauptakteure ergeht sich Hitchcock in wiederkehrenden Scherzen über die
liebeshungrige frischgebackene Ehefrau vom Apartment
gegenüber, die ihren Mann bis zur Erschöpfung
schlaucht. Nebenbei tritt er selbst - natürlich - in
einem kleinen Cameo auf und läßt Jeffs Pflegerin
ungeniert über verstreute Leichenteile parlieren
- genug, um das glückselige Lächeln bis in den
nächsten Tag hinüberzuretten.
Wenn es
nicht vorher von einem gespannten Gesicht abgelöst
wird. Denn da der Zuschauer nur sieht, was Jeff sieht, und
mit ihm bis zur etwas unvollständigen Auflösung
rätselt, ob der Vertreter wirklich seine Frau
getötet hat, steigt die Spannung kontinuierlich.
Währenddessen entfaltet sich noch der schön
ausgearbeitete Subplot, in dem Jeff entdeckt, daß
seine Liebste doch mehr als gedacht auf dem Kasten hat. Und
so steuert der Film dem logischen Happy-End zu, das den
Zuschauer zufrieden zurückläßt, im wohligen
Wissen, für diese ewig junge Perle den x-ten
Wumm-Bumm-Streifen und die y-te Blabla-Komödie links
liegengelassen zu haben.
   1/2
von 5
Sternen.
|