Kritik:
"Es ist alles
Morpheus' Schuld!"; unmotiviert-voyeuristische Sexszenen; in
Dampfschwaden aus der Nebelmaschine mit einem Blitzen
verschwindende Figuren; angefangene, aber nicht zu Ende
geführte Handlungsfäden, lose und traurig wie die
Reste eines aufgeribbelten Alpakapullovers. Schund, Kitsch
und Tand, empört sich der leidenschaftliche
Kinogänger und bleibt derartig beleumundeten Machwerken so fern wie einer Romeo und Julia-Verfilmung mit
Bob Hope und Roseanne Barr.
Es sei
denn, der Regisseur der angeblichen Zelluloidverschwendung,
die sich alsbald als wahre Perle entpuppt,
heißt David Lynch und sein Film Mulholland
Drive. So charmant, gekonnt und atmosphärisch
jongliert der Höhlenforscher
mysteriös-menschlicher Abgründe mit eigentlich
sattsam bekannten Versatzstücken, daß sie wie
blitzend brandneu scheinen, einen tiefen Sinn bekommen und
für furchtbare Überraschungen ebenso wie für
aufregend sinnliche und zutiefst bewegende Momente sorgen,
die auch nur im Ansatz zu verraten ein Frevel an Lynch wie
an allen noch nicht seiner neuesten Schöpfung
teilhaftig gewordenen zukünftigen Zuschauern
wäre.
Ganz ohne
Inhaltsangabe fällt eine ausführliche Rezension
freilich schwer, und so möge, wer fürchtet, sich
den Genuß zu verderben, an dieser Stelle
aufhören, ins Kino gehen, Mulholland Drive mit
einer uneingeschränkten Empfehlung zum Geleit ansehen
und dann zurückkehren, um fertigzulesen. Auch mutigeren
oder bereits eingeweihten Naturen sei ein wiederholter
Besuch dieses berückenden Meisterwerks freudig ans Herz
gelegt - aber nachher bitte trotzdem weiterlesen!
Für Novizen wie Initiierte fängt Lynchs Film
(fast) mit wackelnden Scheinwerfern an, die das
Straßenschild des kurvenreichen Mulholland
Drive erhellen. Im Fond einer schwarzen Limousine sitzt
die - Neues aus Kalau, wieder mal - ebenso kurvige Rita,
eine reife, dunkelhaarige Schönheit mit herrlich roten
Lippen, von der bislang fast unbekannten Laura Elena Harring
faszinierend als moderne Version einer eleganten Filmdiva
vergangener Tage gegeben. Rita verliert ihr Gedächtnis,
kommt aber nach einigen aufregenden Verwicklungen bei der
soeben in L.A. gelandeten, aus dem kanadischen Flecken Deep
River stammenden angehenden Schauspielerin Betty Elms
unter, die von Naomi Watts bewundernswert intensiv gespielt
wird.
Hätten
Lynch und sein kreativer Kameramann Peter Deming ab hier die
beiden Protagonistinnen vor eine weiße Wand postiert
und nur ab und zu blinzeln lassen, um zu zeigen, daß
sie noch leben, es wäre auch dies mehr als gut gewesen. Denn so
vollkommen harmonieren die blonde Watts und die
schwarzhaarige Harring, so einzigartig ergänzen sich
die energiegeladene Kanadierin und die verschüchterte
Amerikanerin, so sympathisch meistern die beiden ungleichen Freundinnen alle
aufkommenden Gefahren, daß man ihnen auf immer zusehen
könnte.
Allein, so wie jeder Traum einmal endet, so sind auch Watts und
Harring nur so lange beisammen, bis das Licht im
Projektor aus- und jenes im Saal angeht. Bis dahin jedoch
stehen sie, nur kurz getrennt und von eher
humorig-skurrilen, aber dennoch gelungenen Szenen mit einem
überzeugenden Justin Theroux als exzentrischem
Filmregisseur Adam Kesher unterbrochen, ein aufregendes
Casting, einen unangemeldeten Hausbesuch und eine
schlaflose Nacht durch, bis sie vom grimmig klaffenden Maul
des Nachtclubs Silencio gleichsam verschlungen werden;
und ist dem (vermutlich blinden, tauben, nasen-, zungen-,
arm- und beinlosen) Zuschauer bis dahin nicht aufgefallen,
wie präzise noch der kleinste Nebendarsteller agiert,
wie hypnotisch die suggestive Kameraführung und die
aufreibende Musik in ihren Bann zu ziehen vermögen und
wie clever David Lynch sein Publikum fesseln kann,
spätestens hier wird er es endlich bemerken: die
Schlüsselsequenz des gesamten Filmes ist von so
träumerischer Schönheit, Intensität und
Wehmut, daß keine Steigerung mehr möglich
scheint.
Tatsächlich
ist Mulholland Drive im Silencio am Ende
seines Mysteriums angelangt und entrollt sich nun in
für Lynch geradezu bemerkenswert logischer Weise bis zu
seinem endgültigen Finale, das im Rückgriff auf
eine bekannte Figur Boris Vians den Übergang aus der
virtuellen Stadt der Träume in die muffige
Realität des Kinosaals etwas ruppig, aber letztlich
konsequent gestaltet. Zurück bleiben so zwar nicht mehr
viele Rätsel, aber das wohlig-warme Wissen, ein
handwerklich innovatives, umwerfend gespieltes und immer
packendes Kinokunstwerk gesehen zu haben. Der Vorhang zu und
keine Fragen offen - Silencio. Zum Glück aber
ohne Schlafes Bruder.
   1/2 von 5 Sternen.
|