Kritik:
Das Kondom, so die
zarte Helena Bonham Carter als Marla Singer in David
Finchers wunderbarstem aller wunderbaren Filme Fight
Club, ist "the glass slipper of our generation",
der gläserne Schuh, den man anzieht, um die ganze Nacht
mit einem Wildfremden zu tanzen und ihn dann wegzuwerfen. "The condom, not the stranger."
Umso verwunderlicher also, daß der Filmfan in
Hollywood - dem Ort, an dem Betten nur L-förmige Decken
haben, dem Ort, an dem venusartige Frauen und hengstgleiche
Männer immer exakt gleichzeitig zu explosiven Orgasmen
gelangen und dem Ort, an dem Männer selbst dann, wenn
sie ihre Hose nicht ausziehen, Frauen schwängern
können - nur dann ein Kondom erblickt, wenn der Film
gleichsam in den dunklen Vororten der Stadt spielt, wohin
sich kaum je eine Lichtgestalt aus Studio City verirrt. So ist es David Fincher hoch anzurechnen, daß
er in Fight Club vier friedlich in der Toilette
schwimmende Präser zeigt, und noch höher ist es
Patrice Chéreau anzurechnen, daß er in seinem
anstrengenden, aber durchaus gelungenen Werk Intimacy
tatsächlich zeigt, wie Mark Rylance vor dem Beischlaf
mit Kerry Fox ein Verhüterli
überzieht.
Überhaupt
ist der unverkrampfte Umgang mit Sexualität eines der
Highlights von Intimacy, umso mehr, wenn sich im Kino
nebenan amerikanische Verklemmung und unterdrückte Obszönität deutlich hörbar in
gewalttätigen Penetrationsphantasien unter dem
Deckmantel der Darstellung der Geschichte von Pearl
Harbor entladen: Mark Rylance, in seiner
schmuddelig-grüblerischen Unrasiertheit den
üblichen Muskelprotzen weit fern, und Kerry Fox, alles
andere als ein operiert-hirnloses Luxuskörperchen,
zeigen und geben alles für ihre Charaktere, die sich jeden Mittwoch zu anonymem
Sex treffen. Wie sehr der gemeine Zuschauer von der
diskret-prüden Abblende, der Lüge der immer
glücklich erfüllten Körperlichkeit und den
ewig gleichen Astralleibern verzogen ist, macht
Chéreau in diesen Szenen nach und nach
subtil-charmant deutlich, vor allem, als Rylance, der sich
jeden Mittwoch ein bißchen mehr in Fox verliebt, die
schlafende Neuseeländerin Kerry drapiert wie Goyas
nackte Maya. Hier entdeckt die Kamera und mit ihr der
Zuschauer die ganze Attraktivität der auf den ersten
Blick eher herb anmutenden Kerry Fox, und wenn selbst das
Kino der Jahrtausendwende noch zeigen kann, daß auch
Nicht-Astralen bezaubernde Schönheit innewohnt, ist mir
um die Zukunft schon weniger bang.
Bald aber
reichen Jay (Rylance), einem halbwegs erfolgreichen
Kneipenbetreiber, der seine Frau und seine zwei kleinen
Kinder verlassen hat und mit seinem abgerissenen Freund
Victor und seinem neuen Kellner Ian hadert, die
mittwöchlichen Treffen nicht mehr, und er beginnt,
Claire (Fox), der im Moment einzigen Frau in seinem Leben,
halb neugierig, halb pirschend nachzugehen, bis er sie in
einem schäbigen Kleintheater antrifft, wo sie, von
ihrem korpulent-liebevollen Ehemann Andy (Timothy Spall) und
ihrem kleinen Sohn begleitet, mehrmals in der Woche schauspielt.
Zu meist blau-blauen, aber ästhetischen Bildern und
unaufdringlicher Musik diskutiert er nun mit Andy, ohne sie
zu erwähnen, über dessen Frau, läßt
sich von Ian beraten und schimpft mit Victor, während
Claire, von ihrer Schülerin Betty (die Sängerin
Marianne Faithfull in einer Minirolle) genervt, in einer
schön-erschütternden und toll gespielten Szene
dahinter kommt, daß Jay sie verfolgt und beider
Privatheit so zerstört. In diesen Szenen entfaltet sich
nach und nach das komplizierte Beziehungsgeflecht der
durchweg hervorragenden Hauptakteure Rylance, Fox und Spall,
und als die aufgestauten Spannungen und Verwirrungen sich
endlich in Andys beeindruckend gespieltem Besuch in Jays
Kneipe und Andys und Claires und Claires und Jays Aussprache
entladen, sind nicht nur die Charaktere, sondern auch die
Zuschauer erschöpft: die um Ehrlichkeit in Beziehungen,
Nähe, Treue, Bindungsangst und fehlendes
Verständnis füreinander kreisenden Dialoge und
Szenen sind nicht nur ausgeklügelt, verschachtelt und hintergründig-lebensnah,
sondern in der Originalversion ob der verschiedenen
nuschligen Akzente teilweise auch nur mit viel Mühe zu
verstehen.
Zurück
bleiben so statt eines einheitlichen Gesamtbildes nur
einzelne Fragmente, die aber dennoch eindrücklich die
Auswirkungen fehlender oder befürchteter Intimität der Großstadtmenschen zeigen: Claire, die nach jahrelanger
Ehe ihren Mann beschimpft, er wisse noch nicht mal, wie er
sie verletzen könne; Jay, der einen kichernden und
ständig plappernden One-Night-Stand noch vor dem
Frühstück verläßt; und Jay, der seine
Familie aus Angst, durch die gemeinsamen Kinder auf immer an
seine Frau gebunden zu sein, alleinläßt...
Nachdenklich stimmend, anstrengend und nicht leicht verdaulich, aber eine Überlegung (und einen Kinobesuch) allemal wert, und sei's nur, um Menschen statt Puppen zu sehen.
  1/2 von 5 Sternen.
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