Kritik:
Die besten
sozialkritischen Filme, die der amerikanischen Gesellschaft
den Spiegel vorhalten, kommen - es gibt doch noch subtile
Ironie - ausgerechnet aus den Händen von
Nicht-Amerikanern. Leute wie Paul Verhoeven mit seinen
grotesken Überzeichnungen oder Roland Emmerich mit
seinen todernst patriotischen filmischen Ausfällen, die
trotzdem millionenfach besucht werden, zeigen (manchmal eher
unfreiwillig), wie die amerikanische Gesellschaft gestrickt
ist.
Auch der
Asiate Ang Lee, mit Sense and Sensibility bekannt
geworden, zeigt in The Ice Storm ein bemerkenswertes
Gespür für die seelischen Abgründe der
Neuweltler. In unterkühlt-ästhetischen Bildern,
von einem eindringlichen musikalischen Hauptthema begleitet,
zeigen hervorragende Schauspieler mit üppigen
Zeitgeist-Frisuren in authentischen Seventies-Dekors, wie
unverdaut die Offenheit der Hippie-Ära geblieben ist.
Von Kevin Kline als zwischen Autorität und
Kumpelhaftigkeit schwankendem Vater über Joan Allen als
im Herzen konservativ gebliebener Mutter bis zu Sigourney
Weaver als hedonistischer Geliebter zeigen sich die
erwachsenen Schauspieler auf der Höhe ihres
Könnens und demonstrieren eindringlich, daß die
Umsetzung des Ideals der freien Liebe an alltäglichen
Marotten und Eifersüchteleien scheitert. Höhepunkt
und im wahrsten Sinne des Wortes Schlüsselszene ist
hier der Partnertausch auf der Party, als die Gäste im
Herzen unwillig, aber dem freiheitlichen Zeitgeist folgend
ihre Ehefrauen und -männer für eine Nacht
austauschen. Für die befreundeten Familien Carver und
Hood endet der Abend in einem die Lügen aufdeckenden alkoholischen Fiasko.
Mindestens
genausoviel Raum gibt Ang Lee seinen jungen Schauspielern,
die frei von Verboten und Richtlinien orientierungslos im
sexuellen Niemandsland umhertappen. Christina Ricci als
Unsicherheiten durch Provokation vertuschendes Gör
weiß dabei ebenso zu gefallen wie Elijah Wood als
verträumter Schluffi oder Adam Hann-Byrd als
frühreifer, verzogener Bastard. Auch Tobey
"Schlafzimmerblick" Maguire als unglücklich
liebender Comic-Fan ist nett anzusehen, genauso wie Katie
"Joey" Holmes als Objekt der Begierde "Wie-bitte?"-Libbets.
Als Riccis Filmvater sie und Wood beim Fummeln erwischt und
rabiat trennt, wird klar, daß die permissive Denkweise
der Achtundsechziger sich nur oberflächlich festsetzen
konnte und die unbewältigten Koflikte nicht beseitigt,
sondern nur verdeckt oder sogar verschlimmert
hat.
Nach fast
neunzig Minuten nie langweiliger genauer Beobachtung,
schöner schauspielerischer Interaktion und
zwischenmenschlicher Plänkeleien wird ein großer
Eissturm, viele haben es geschrieben, zur Metapher für
die neue Gefühlskälte. Daß ihr ein Kind zum
Opfer werden muß, erscheint da nur logisch, und so
findet The Ice Storm im Schluß noch zu einer
Tragödie, die kathartisch überwunden werden
muß, gezeigt im finalen Weinkrampf Kevin Klines, der
den Zuschauer fassungslos und traurig sitzen
läßt. Zum Glück sind wir Europäer
wenigstens richtig sexuell befreit... oder?
   1/2
von 5
Sternen.
|