Kritik:
Ein störungsfreier Kinobesuch ist, ach, eine hochsensible
Angelegenheit, vergleichbar nur einem Shuttlestart mit porösen Dichtungsringen oder dem
Herunterfahren eines Atomreaktors in einer milden Aprilnacht - nur allzu leicht kann etwas schiefgehen. Entsprechend auch die
Glückseligkeit, die den Zuschauer durchströmt,
sobald er, die nur zu seltene Vollkommenheit der
Begleitumstände bemerkend, in den Sessel sinkt, die
Realität aus- und die Filmwelt einblendend.
Wie
selbstverständlich wird so auch der genossene Film in
himmlische Seligkeit getaucht, und kleine Dunkelstellen und
Ungereimtheiten verschwinden im warmen Licht des
cineastischen Elysiums. Umso größer war meine
Überraschung, als ein zweiter Besuch von Das
Experiment all das offenbarte, was mir beim ersten Mal
entgangen zu sein schien - häßlich-unlogische
Flecken und klaffende Plotlöcher von der
Größe des Kölner Doms. In Oliver
Hirschbiegels Film liegen Licht und Schatten nahe
beieinander, überlagern sich, Interferenzmustern,
Gitterstäben gleich, um schließlich im Dunkel der
Experimentierhöhle zu einem wirklichen Knast zu
gerinnen, jener Welt enthoben, in der die Gesetze der Logik
unbarmherzig herrschen.
Moritz
Bleibtreu, ein rundum sympathisch-knautschgesichtiges
Talent, spielt - und sogar, wunderbar, mit einem leichten,
schwer definierbaren Akzent, der so viele Kinder der dritten
Einwanderergeneration kennzeichnet - den finanziell klammen
Journalisten und ehemaligen Studenten Tarek Fahd, der sich,
seit er "Stress" hatte, als Taxifahrer verdingt. Durch einen
Zeitungsartikel erfährt er von einem Experiment der
Universität Köln, in dem 20 Freiwillige 14 Tage
lang für 4000 Mark Gefangene und Wärter mimen
sollen, unter ständiger Beobachtung der Leitung,
repräsentiert durch das bekannte Gesicht Edgar Selge
als ehrgeizig-unvorsichtigem Professor Thon und die fast
genauso bekannte Musterrothaarige Andrea Sawatzki als
schmallippig-energische Dr. Grimm. Sawatzkis gelungene
Vorstellung als in einer feindlichen Männerwelt
lebende, aber dennoch nicht selbst vermännlichte
Wissenschaftlerin kann ebenso zu den Highlights von
Hirschbiegels Film gezählt werden wie die Leistungen
der anderen Hauptdarsteller, die den Zuschauer über
manche Schwächen hinwegtrösten.
Tarek also
entschließt sich, und die eigentlich gekonnt
aufreibende Musik hämmert dazu manchmal doch etwas zu
aufdringlich, am Experiment teilzunehmen, verkauft den darin
vermuteten Knüller an seinen ehemaligen Chefredakteur
und besorgt sich dann von Qs Sohn eine Videobrille, mit der
er alles aufnehmen kann, was er sieht. Leider wird die
ohnehin sehr futuristisch anmutende Brille im Folgenden dann
auch genauso unrealistisch gebraucht wie eins von Qs
Gimmicks, was in einem James-Bond-Streifen nicht weiter
stören würde, hier aber, in einem auf den
Das-ist-wirklich-passiert-Realitätsbezug pochenden
Film, ebenso unangenehm ins Auge sticht wie eine
lasergesteuerte Ahle (pun ausnahmsweise intended).
Bevor Tarek dann ausgezogen und ohne Unterwäsche in ein
numeriertes Leibchen und lächerliche Badeschlappen
gesteckt wird, lernt er noch - und die erste Begegnung ist
ein Schockmoment, wie es solche nur noch ganz selten
für den abgebrühten Filmfan von heute gibt - die
vom Tod ihres geliebten, klugen Vaters verwirrte Dora
näher kennen, so, wie sich Menschen in Filmen eben
näher kennenlernen, wenn nur 90 Minuten bis zum Abspann
bleiben. Im Folgenden denkt Tarek oft an Dora zurück,
flieht aus der bedrückenden Enge der Zelle in die Weite
seiner Erinnerungen, die der fähige Kameramann Rainer
Klausmann in reichlich schmalzig-lichtdurchfluteten
Einstellungen zeigt. Bei soviel metaphysischer
Rückblickerei darf auch ein
handfest-trivialpsychologisches Kindheitstrauma nicht
fehlen, dem sich Tarek, Hollywood ist kein Ort, sondern ein
Zustand, natürlich stellen muß.
Bevor es
dazu kommt, darf der Zuschauer aber abwechselnd die
Versuchskaninchen und Dora näher kennenlernen. Diese
ist, ganz im Gegensatz zu Bleibtreus proletarischer
Erscheinung, eine jener Frauen, die für Abendkleider
und Bälle geboren scheinen, groß gewachsen,
schlank, von klassischer Schönheit, elegant in Bewegung
und Gestalt. Wieviel von dieser Ausstrahlung Maren Eggert
selbst und wieviel ihrer Schauspielkunst zuzuschreiben ist,
ist unklar, aber als in ruhigen, kleinen, anrührenden
Szenen ihrem über alles verehrten Vater nachtrauernde
braungelockte Schönheit ist sie allemal einen oder
mehrere Blicke wert. Auch gegen Ende, als, das hat
Hirschbiegel sich bei Kubrick abgeguckt, dem männlichen
Krieg die weibliche Ordnung (keine überkommenen
Geschlechtervorstellungen, sondern nur Grammatik...)
drastisch gegenübergestellt wird, macht sie eine gute
Figur.
Die Probanden aber, gewandet entweder in die bereits
erwähnten Leibchen oder in eine blaue Uniform mit
Schlagstock - ohne Bolzenschneider, hohoho - und
Funkgerät, fügen sich zuerst zögerlich und
unsicher, dann aber immer schneller in ihre zufällig
zugeteilten Rollen. Als da wären: #77, unser Held,
Tarek Fahd; #69, ein zuerst jovialer, dann zunehmend
gestreßter und panischer Starkstromelektriker; #38,
ein brummeliger Bademeister, dessen Gebaren an eine ganz
andere Berufsgruppe erinnert, der er dann auch
tatsächlich angehört - ein Lob an Christian Berkel
für seine hervorragend authentisch und detailliert
gespielte Rolle; und Schütte, ein Kioskbesitzer, der
von einem eigenen Ferrari träumt. Nun sind große
Träume und Wünsche in Actionfilmen aber noch
letaler als der Satz "Ist da jemand?" in Horrorfilmen,
und so hofft der Zuschauer dem lieben Schütte zuliebe
auf eine Abkehr von den gewohnten
Hollywood-Schablonen.
Die ersten
Knastszenen lassen diese Hoffnung berechtigt erscheinen: die
Wärter, unter ihnen der schmierig-lüsterne
Elvis-Imitator Eckert, der schüchterne Referendar
Bosch, der Abteilungsleiter Kamps und der verstockte,
stinkende, misogyne und heimlich homosexuelle
Airline-Mitarbeiter Berus, tauschen am ersten Abend Fotos
ihrer Babies aus, und in kleinen Nebensätzen und Gesten
(Boschs Milchbart!) bekommt das Publikum eine tiefe Ahnung
von den Familienverhältnissen, Hintergründen und
Ansichten der Akteure, wie sie Hollywood nur selten zu
vermitteln vermag. Auch die folgenden Szenen, in denen Tarek
als agent provocateur und der immer ungehemmter
sadistisch agierende Berus einander hochschaukeln, heben
sich in ihrer Drastik und dicht-beklemmenden
künstlerischen Umsetzung wohltuend vom L.A.-Einerlei
ab; das Unwohlsein des Zuschauers wird noch durch das Wissen
bestärkt, daß all das wirklich geschehen ist,
daß Menschen Menschen wirklich so demütigen
können, allein weil der Zufall sie in die Rolle des
Machthabers versetzt hat.
Mit solchen
Überlegungen hält sich Das Experiment
jedoch traurigerweise nicht lange auf, sondern schreitet
unbeirrt auf den Rand der wahren Geschichte zu, dort, wo die
Überlieferung endet und die Fiktion anfängt, und
es scheint, als wäre dies der direkte Weg von Palo Alto
in die Stadt der Engel. So nimmt die Gewalt überhand,
und es fließt Blut, und das Geschöpf wendet
sich gegen seinen Schöpfer, und alte Vorurteile
gegenüber dicken und unrasierten "Knuddelbären"
bestätigen sich, und es wird geschossen, und am Ende
sind Tareks Reflexe sogar denen Supermans überlegen,
wodurch natürlich alles gut wird, alles gut werden
muß; die Katharsis löst sich, sprudelnd wie eine
Brausetablette, im Jubelprosecco auf, und Christiane
Gerboth, symptomatisch ist das schon, spricht die
"Nachrichten", aller Wahrscheinlichkeit nach auf jenem
Sender, wo die Filme laufen, von denen Hirschbiegel und
seine Autoren die letzte halbe Stunde so schamlos
abgekupfert haben. In jenen Filmen fragt man auch nicht,
wieviele Kugeln in einem Magazin stecken, und hier fragt man
eben nicht, was mit Schraubendrehern, Sperrholzkisten,
Schlagstöcken, Gaspistolen, Handschellen und
Zellenschlüsseln alles nicht gemacht werden kann - man
macht es einfach, das walten Batman und Robin.
Der
Zuschauer ist ob dieser Wende vom psychischen zum physischen
Terror zuerst düpiert, dann geschockt, dann neugierig
und dann wütend, aber schließlich doch, Zitat
Marge Simpson, schläfrig: allzu bekannt sind die
dargebotenen Kniffe, und allzu stur folgt Das
Experiment der Schablone, die doch nur eine
Spirograph-Vorlage ist. Und so verunstaltet Oliver
Hirschbiegels Film gegen Ende mit wenigen schnellen, wirren
Krakeln alles, was er vorher mit Hilfe seiner talentierten
Einzelkünstler mühsam erarbeitet hat, schneidet
sich gleichsam ins eigene Fleisch - mit diesem Bild bekommt
die letzte Actionszene eine ganz neue Bedeutung, aber besser wird das Ende dadurch dennoch nicht.
  1/2 von 5 Sternen.
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