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Das Experiment

-- Schutzbrillen aufsetzen! --

Szene aus Das Experiment

Info über Das Experiment (D 2001)

Regie: Oliver Hirschbiegel

Darsteller: Moritz Bleibtreu, Christian Berkel, Timo Dierkes, Justus von Dohnànyi, Maren Eggert, Andrea Sawatzki

Inhalt: Der Taxifahrer und verkrachte Journalist Tarek Fahd läßt sich auf ein psychologisches Experiment ein, das eine Gefängnissituation simuliert. Die Lage eskaliert. Nach einer wahren Geschichte.

Kritik: Ein störungsfreier Kinobesuch ist, ach, eine hochsensible Angelegenheit, vergleichbar nur einem Shuttlestart mit porösen Dichtungsringen oder dem Herunterfahren eines Atomreaktors in einer milden Aprilnacht - nur allzu leicht kann etwas schiefgehen. Entsprechend auch die Glückseligkeit, die den Zuschauer durchströmt, sobald er, die nur zu seltene Vollkommenheit der Begleitumstände bemerkend, in den Sessel sinkt, die Realität aus- und die Filmwelt einblendend.

Wie selbstverständlich wird so auch der genossene Film in himmlische Seligkeit getaucht, und kleine Dunkelstellen und Ungereimtheiten verschwinden im warmen Licht des cineastischen Elysiums. Umso größer war meine Überraschung, als ein zweiter Besuch von Das Experiment all das offenbarte, was mir beim ersten Mal entgangen zu sein schien - häßlich-unlogische Flecken und klaffende Plotlöcher von der Größe des Kölner Doms. In Oliver Hirschbiegels Film liegen Licht und Schatten nahe beieinander, überlagern sich, Interferenzmustern, Gitterstäben gleich, um schließlich im Dunkel der Experimentierhöhle zu einem wirklichen Knast zu gerinnen, jener Welt enthoben, in der die Gesetze der Logik unbarmherzig herrschen.

Moritz Bleibtreu, ein rundum sympathisch-knautschgesichtiges Talent, spielt - und sogar, wunderbar, mit einem leichten, schwer definierbaren Akzent, der so viele Kinder der dritten Einwanderergeneration kennzeichnet - den finanziell klammen Journalisten und ehemaligen Studenten Tarek Fahd, der sich, seit er "Stress" hatte, als Taxifahrer verdingt. Durch einen Zeitungsartikel erfährt er von einem Experiment der Universität Köln, in dem 20 Freiwillige 14 Tage lang für 4000 Mark Gefangene und Wärter mimen sollen, unter ständiger Beobachtung der Leitung, repräsentiert durch das bekannte Gesicht Edgar Selge als ehrgeizig-unvorsichtigem Professor Thon und die fast genauso bekannte Musterrothaarige Andrea Sawatzki als schmallippig-energische Dr. Grimm. Sawatzkis gelungene Vorstellung als in einer feindlichen Männerwelt lebende, aber dennoch nicht selbst vermännlichte Wissenschaftlerin kann ebenso zu den Highlights von Hirschbiegels Film gezählt werden wie die Leistungen der anderen Hauptdarsteller, die den Zuschauer über manche Schwächen hinwegtrösten.

Tarek also entschließt sich, und die eigentlich gekonnt aufreibende Musik hämmert dazu manchmal doch etwas zu aufdringlich, am Experiment teilzunehmen, verkauft den darin vermuteten Knüller an seinen ehemaligen Chefredakteur und besorgt sich dann von Qs Sohn eine Videobrille, mit der er alles aufnehmen kann, was er sieht. Leider wird die ohnehin sehr futuristisch anmutende Brille im Folgenden dann auch genauso unrealistisch gebraucht wie eins von Qs Gimmicks, was in einem James-Bond-Streifen nicht weiter stören würde, hier aber, in einem auf den Das-ist-wirklich-passiert-Realitätsbezug pochenden Film, ebenso unangenehm ins Auge sticht wie eine lasergesteuerte Ahle (pun ausnahmsweise intended).
Bevor Tarek dann ausgezogen und ohne Unterwäsche in ein numeriertes Leibchen und lächerliche Badeschlappen gesteckt wird, lernt er noch - und die erste Begegnung ist ein Schockmoment, wie es solche nur noch ganz selten für den abgebrühten Filmfan von heute gibt - die vom Tod ihres geliebten, klugen Vaters verwirrte Dora näher kennen, so, wie sich Menschen in Filmen eben näher kennenlernen, wenn nur 90 Minuten bis zum Abspann bleiben. Im Folgenden denkt Tarek oft an Dora zurück, flieht aus der bedrückenden Enge der Zelle in die Weite seiner Erinnerungen, die der fähige Kameramann Rainer Klausmann in reichlich schmalzig-lichtdurchfluteten Einstellungen zeigt. Bei soviel metaphysischer Rückblickerei darf auch ein handfest-trivialpsychologisches Kindheitstrauma nicht fehlen, dem sich Tarek, Hollywood ist kein Ort, sondern ein Zustand, natürlich stellen muß.

Bevor es dazu kommt, darf der Zuschauer aber abwechselnd die Versuchskaninchen und Dora näher kennenlernen. Diese ist, ganz im Gegensatz zu Bleibtreus proletarischer Erscheinung, eine jener Frauen, die für Abendkleider und Bälle geboren scheinen, groß gewachsen, schlank, von klassischer Schönheit, elegant in Bewegung und Gestalt. Wieviel von dieser Ausstrahlung Maren Eggert selbst und wieviel ihrer Schauspielkunst zuzuschreiben ist, ist unklar, aber als in ruhigen, kleinen, anrührenden Szenen ihrem über alles verehrten Vater nachtrauernde braungelockte Schönheit ist sie allemal einen oder mehrere Blicke wert. Auch gegen Ende, als, das hat Hirschbiegel sich bei Kubrick abgeguckt, dem männlichen Krieg die weibliche Ordnung (keine überkommenen Geschlechtervorstellungen, sondern nur Grammatik...) drastisch gegenübergestellt wird, macht sie eine gute Figur.
Die Probanden aber, gewandet entweder in die bereits erwähnten Leibchen oder in eine blaue Uniform mit Schlagstock - ohne Bolzenschneider, hohoho - und Funkgerät, fügen sich zuerst zögerlich und unsicher, dann aber immer schneller in ihre zufällig zugeteilten Rollen. Als da wären: #77, unser Held, Tarek Fahd; #69, ein zuerst jovialer, dann zunehmend gestreßter und panischer Starkstromelektriker; #38, ein brummeliger Bademeister, dessen Gebaren an eine ganz andere Berufsgruppe erinnert, der er dann auch tatsächlich angehört - ein Lob an Christian Berkel für seine hervorragend authentisch und detailliert gespielte Rolle; und Schütte, ein Kioskbesitzer, der von einem eigenen Ferrari träumt. Nun sind große Träume und Wünsche in Actionfilmen aber noch letaler als der Satz "Ist da jemand?" in Horrorfilmen, und so hofft der Zuschauer dem lieben Schütte zuliebe auf eine Abkehr von den gewohnten Hollywood-Schablonen.

Die ersten Knastszenen lassen diese Hoffnung berechtigt erscheinen: die Wärter, unter ihnen der schmierig-lüsterne Elvis-Imitator Eckert, der schüchterne Referendar Bosch, der Abteilungsleiter Kamps und der verstockte, stinkende, misogyne und heimlich homosexuelle Airline-Mitarbeiter Berus, tauschen am ersten Abend Fotos ihrer Babies aus, und in kleinen Nebensätzen und Gesten (Boschs Milchbart!) bekommt das Publikum eine tiefe Ahnung von den Familienverhältnissen, Hintergründen und Ansichten der Akteure, wie sie Hollywood nur selten zu vermitteln vermag. Auch die folgenden Szenen, in denen Tarek als agent provocateur und der immer ungehemmter sadistisch agierende Berus einander hochschaukeln, heben sich in ihrer Drastik und dicht-beklemmenden künstlerischen Umsetzung wohltuend vom L.A.-Einerlei ab; das Unwohlsein des Zuschauers wird noch durch das Wissen bestärkt, daß all das wirklich geschehen ist, daß Menschen Menschen wirklich so demütigen können, allein weil der Zufall sie in die Rolle des Machthabers versetzt hat.

Mit solchen Überlegungen hält sich Das Experiment jedoch traurigerweise nicht lange auf, sondern schreitet unbeirrt auf den Rand der wahren Geschichte zu, dort, wo die Überlieferung endet und die Fiktion anfängt, und es scheint, als wäre dies der direkte Weg von Palo Alto in die Stadt der Engel. So nimmt die Gewalt überhand, und es fließt Blut, und das Geschöpf wendet sich gegen seinen Schöpfer, und alte Vorurteile gegenüber dicken und unrasierten "Knuddelbären" bestätigen sich, und es wird geschossen, und am Ende sind Tareks Reflexe sogar denen Supermans überlegen, wodurch natürlich alles gut wird, alles gut werden muß; die Katharsis löst sich, sprudelnd wie eine Brausetablette, im Jubelprosecco auf, und Christiane Gerboth, symptomatisch ist das schon, spricht die "Nachrichten", aller Wahrscheinlichkeit nach auf jenem Sender, wo die Filme laufen, von denen Hirschbiegel und seine Autoren die letzte halbe Stunde so schamlos abgekupfert haben. In jenen Filmen fragt man auch nicht, wieviele Kugeln in einem Magazin stecken, und hier fragt man eben nicht, was mit Schraubendrehern, Sperrholzkisten, Schlagstöcken, Gaspistolen, Handschellen und Zellenschlüsseln alles nicht gemacht werden kann - man macht es einfach, das walten Batman und Robin.

Der Zuschauer ist ob dieser Wende vom psychischen zum physischen Terror zuerst düpiert, dann geschockt, dann neugierig und dann wütend, aber schließlich doch, Zitat Marge Simpson, schläfrig: allzu bekannt sind die dargebotenen Kniffe, und allzu stur folgt Das Experiment der Schablone, die doch nur eine Spirograph-Vorlage ist. Und so verunstaltet Oliver Hirschbiegels Film gegen Ende mit wenigen schnellen, wirren Krakeln alles, was er vorher mit Hilfe seiner talentierten Einzelkünstler mühsam erarbeitet hat, schneidet sich gleichsam ins eigene Fleisch - mit diesem Bild bekommt die letzte Actionszene eine ganz neue Bedeutung, aber besser wird das Ende dadurch dennoch nicht.

***1/2 von 5 Sternen.

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