Kritik:
Der Film beginnt,
und die Leinwand bleibt dunkel. Aber noch ehe Unruhe ob der
befürchteten Panne eintritt, beginnt die Musik mit
einer eindrucksvollen Ouvertüre, die über Minuten
den Kinosaal erfüllt. Gerade weil die Leinwand dabei
die ganze Zeit dunkel bleibt, bleibt diese Szene so lebhaft
im Gedächtnis zurück, als hätte man soeben
seinen allerersten Film gesehen. Mit dieser geradezu
lächerlich simplen Eröffnung tritt der
dänische Regisseur Lars von Trier, der vor allem durch
seine puristischen Dogma-Regeln bekannt geworden ist,
über die Grenzen des Mediums Film hinaus und schafft
mit einfachen Mitteln etwas berückend
Anderes.
Auch
stilistisch ist von Triers Film überaus eigenwillig:
die Akteure bewegen sich durch karg-unspektakuläre
Schauplätze in verwaschenen Farben und körnigen Bildern, wobei eine
entfesselte Handkamera ihnen ganz nah auf die Pelle
rückt. Die extremen Nahaufnahmen aus allen Perspektiven
und der ungewöhnliche Schnitt, der seltsam ungeduldig
fließende Bewegungen wie das Schwenken eines Armes auf
ihren Anfangs- und Endpunkt reduziert, heben Dancer in
the Dark stark von der gewohnten (Hollywood-)Machart ab,
obwohl mit der wie immer attraktiven und talentierten
Catherine Deneuve zumindest ein weithin bekanntes
Mainstream-Leinwandgesicht mitspielt. Auch die anderen
Schauspieler sind nicht gänzlich unbekannt: zumindest
David Morses Gesicht dürfte den meisten
Kinogängern bekannt sein, Peter Stormare hat unter
anderem in Michael Bays grauslichem, hier ungenannten
Wir-haben-die-dicksten-Bohrer-Machwerk mitgespielt, und Cara
Seymour war erst kürzlich als verquälte Prostituierte in
American Psycho zu sehen.
Die beste
Leistung kommt aber von einer Person, die bisher nur selten auf der Leinwand zu sehen war, obgleich sie eine bekannte
Künstlerin ist: die isländische Musikerin
Björk. Ihre exzentrische Musik und ihre schwer
einzuordnende Stimme (viele sprechen hier von der
"isländischen Elfe", eine kurios passende Bezeichnung)
haben sie in der ganzen Welt berühmt gemacht, und die
Isländer liegen ihr zu Füßen, weil viele
überhaupt erst dank Björk wissen, daß es ein
Land namens Island gibt. Wenn man Björks Musik
verabscheut, sollte man besser einen weiten Bogen um
Dancer in the Dark machen, denn die Sängerin und
ihre extra komponierten Lieder beherrschen den Film ganz
außerordentlich. Gerüchteweise haben sich
Björk und der Regisseur sogar mehrfach überworfen,
nachdem Lars von Trier die Musikerin bis zur
Erschöpfung angetrieben hatte. Wie immer muß man
solchen Kolportationen mit einer großen Portion
Skepsis begegnen, da schon die verrücktesten Dinge
gesagt und getan worden sind, um die PR zu
schüren.
Jedoch ist unstrittig, daß trotz oder wegen aller
angeblichen Querelen Björks Leistung gar nicht hoch
genug einzuschätzen ist. Als besorgte, etwas naive
Mutter, die für die nötige Augenoperation ihres
Sohnes Tag und Nacht schuftet und dabei nach und nach
erblindet, bringt sie ihre Aufopferung und ihren Kampf mit
der Behinderung erschütternd glaubhaft und bewegend
rüber - wenn die halbblinde Björk an riesigen
Pressen und Schneiden mit bloßen Händen arbeitet,
ist das mehr Horror als in allen Stephen King-Filmen
zusammen. Zwischendurch blockt sie noch ("Ich habe keine
Zeit für einen Freund") die tapsigen
Annäherungsversuche des von Peter Stormare
liebenswürdig sanft gespielten Jeff ab, neckt ihre
Kollegin Kathy (Catherine Deneuve mit einem schweren Akzent)
oder besucht ihre Vermieter, den Polizisten Bill (David
Morse als verschuldeter Cop) und die Hausfrau Linda (Cara
Seymour etwas enttäuschend als Luxusweib). Mit ihrem
knubbelig-exotischen Aussehen und ihrer Vorliebe für
kitschige Musicals wirkt diese Selma manchmal fast wie ein
Kind, und so ist es kein Wunder, daß sie ihr gespartes
Geld in einer Bonbondose aufbewahrt, Symbol ihres
amerikanischen Traums.
Dieser bricht sich sonst nur Bahn in
den Musicalpassagen, in denen Björk den Rhythmus von
Maschinen und Bewegungen zu packenden Melodien verarbeitet
hat. In Selmas manchmal etwas lasch choreographierten
Bessere-Welt-Phantasien, die in den absurdesten und
eigentlich traurigsten Momenten - im Gerichtssaal oder auf
der Todesmeile - beginnen, ist immer jemand da, um sie
aufzufangen. Björks gewöhnungsbedürftiger
Gesang ist dabei durchaus verschieden vom üblichen,
glatten Pop-Einerlei, besitzt aber einen gewissen
verschrobenen Charme. Zum Glück hat man die Lieder
nicht auch synchronisiert - Sandra Schwittau, Bart Simpsons
deutsche Stimme, ist mit ihrem rauhen Organ zwar eine
überraschend gute Björk-Synchro, aber zum Singen
taugt sie bestimmt nicht.
Da
Dancer in the Dark aber nicht nur ein Musical,
sondern auch ein Drama ist, kommt der hochverschuldete Bill,
der Angst hat, seine Frau zu verlieren, wenn er ihr keine
teuren Dinge mehr kaufen kann, hinter Björks
Bonbondosen-Geheimnis und stiehlt ihr Geld. Die
Tragödie bleibt natürlich nicht aus, und wie
tiefgehend auf den ersten Blick kitschige Handlungsteile
(Operettenverhandlungen mit heuchelnden Anwälten, "Paß auf mein Kind auf",
Todeszelle, kryptoreligiöse Symbolik...) in einer
ungewöhnlichen Inszenierung und in den Händen
fähiger Schauspieler sein können, beweist Lars von
Trier im letzten Drittel des Films, das am vehementesten in
Erinnerung bleibt. Selmas Hunger nach Geräuschen und
Musik, die sie so dringend braucht wie andere Leute die Luft
zum Atmen, wird ebenso eindringlich klar wie die
Unmenschlichkeit der staatlichen Exekutionsindustrie, die
sich - ein schöner Rückgriff auf ein vorher
vorgestelltes Motiv - nicht einmal um gängige
Musical-Happy-End-Konventionen schert. Ob von Trier hier so
massiv auf die Tränendrüse drückt, weil es
ihm wirklich um seine Charaktere geht, oder nur, weil er die
Musicalklischees zynisch persiflieren will (dazu würden auch
die bereits besprochenen Kitschelemente passen), ist
allerdings nicht ganz klar. Einen tiefen Eindruck
hinterläßt Dancer in the Dark aufgrund seiner im wahrsten Sinne des Wortes nahegehenden Inszenierung jedenfalls so oder
so.
1/2
von 5 Sternen.
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