Kritik:
Zur Ungnade der
späten Geburt gehörte bis zu einem Tag im Spätsommer 2001 neben dem traurig-makabren
Wissen, niemals zu den Iden des März in Rom oder im
heißen August 1572 in Paris (aber besser als
Katholik...) sein zu können, das diffus klopfende
Gefühl, kein Ereignis zu haben, das Menschen aller
Länder und Stände für einen einzigen Moment
zueinanderzubringen vermochte, keine Mondlandung, keine
Ermordung John F. Kennedys. 1997, und wieder war es ein
heißer August in Paris, ausgerechnet, schien der
Mantel der Geschichte, für einen Wimpernschlag nur,
einen solchen Moment zu streifen. Spätestens aber, als
die ersten Objektive gierig aufsaugten, was übrig war,
um es in grellen Postillen wieder hochzuwürgen, war
klar, daß die Reise nicht mit "Buzz" auf Luna,
sondern mit Grace nach Monte Carlo ging. Straßsteine statt Mondstaub.
So ist es
nur folgerichtig, wenn Amélie Poulain, die
bezaubernde Heldin des erstaunlichen Jean-Pierre Jeunet in
seinem wundervollen Le fabuleux destin d'Amélie
Poulain, als sie am 31. August 1997 im Pariser Viertel
Montmartre zum ersten Mal vom Tod Diana Frances Spencers
hört, den Fernseher einfach ausschaltet, um sich Wichtigerem zu widmen. Hätte Jeunet bis dahin die
schlimmsten Szenen aus seinem eigenen Alien:
Resurrection, Paul Andersons Event Horizon und
Michael Bays Armageddon zusammengeschnitten, ab hier
wäre ihm alles, jeder noch so klaffende Fehler
verziehen worden. Aber dazu kommt es glücklicherweise
nicht, da Jeunet in der guten halben Stunde bis zu dieser
Szene ein solches Feuerwerk an Überraschungen,
Einfällen, Details und liebenswerten Skurrilitäten
abbrennt, daß man vor lauter Freude weder zum Atmen
noch zum mehr als angebrachten Staunen kommt. Paris!
Amélie Poulain! Fünfzehn Orgasmen! Jede Menge
Flügelschläge! Und nochmal Paris, Paris und noch
ein wenig mehr Paris!
Wie sehr
der gemeine Zuschauer von der ewig geschichtslosen
Chrysler-Building-Schwärmerei amerikanischer Filme
infiziert ist, bemerkt man wohl erst, wenn Jean-Pierre
Jeunet einem die Augen dafür öffnet, was für
eine ganz und gar berückende Kulisse Paris abgibt. In
der Stadt, in der der Blick an guten Tagen von der Grande
Arche über den Arc de Triomphe bis zu Ieoh Ming Peis
Pyramide streift oder wahlweise am immer faszinierenden
Eiffelturm hängenbleibt, atmet auch die kleinste Gasse
unter Bruno Delbonnels fesselndem Kamerablick, von herrlich passender Musik begleitet, unendlich mehr
Leben als jede noch so volle oder leere 57th Street. Wie von
selbst und ganz ohne die allfälligen Touristenmagneten
präsentieren zu müssen, wird der Zuschauer so Teil
von Amélies herzerwärmendem Montmartre. Einen Blick
auf die wunderschöne Kirche Sacré-Coeur kann
sich zwar auch Jeunet nicht verkneifen, aber der Ort dient
der schüchternen Amélie nur als Schauplatz einer
rasanten Schnitzeljagd mit ihrem Schwarm Nino, der
tatsächlich vom vor allem als Regisseur von La
haine und Les rivières pourpres bekannt
gewordenen Mathieu Kassovitz überzeugend-zerstreut
gegeben wird.
Überhaupt
sind die Darsteller in Le fabuleux destin d'Amélie
Poulain mit soviel Eifer und Freude bei der Sache,
daß die Leinwand vor lauter Energie fast glüht: der bereits aus Alien:
Resurrection (Winona, warum?) bekannte Dominique Pinon
als krankhaft eifersüchtiger
Diktiergeräte-Fetischist ist so erfreulich wie Isabelle
Nanty als seine hypochondrische Georgette, der an seinem
Gartenzwerg verzweifelnde Vater Amélies wird von
Rufus so anrührend wie kauzig gespielt, Urbain
Cancelier und Jamel Debbouze ergänzen sich
vollständig als tyrannischer Gemüseverkäufer
und zurückgebliebenes Helferlein, und was Serge Merlin
als Amélies malender Nachbar und Yolande Moreau als
ständig an ihren verstorbenen Mann denkende Hausmeisterin aus ihren
Nebenrollen machen, muß man genauso selbst gesehen
haben wie die junge Schauspielerin, die den Film zu einem
noch größeren Ereignis macht, als er eh schon
ist: Audrey Tautou. Als erfrischend schwer zu fassender
Grenzfall zwischen jolie und belle erweckt sie
die verträumt-hilfsbereite Amélie mit
seelenvoll-cleverem Blick und bezauberndem Lächeln so
einnehmend und sympathisch zum schauspielerischen Leben,
daß man irgendwann nicht mehr anders kann, als so zu
strahlen wie Nino und Amélie, die endlich hinter das
Geheimnis des Mannes auf den Automatenfotos kommen.
Dieser
gehört zu einer unüberschaubaren Riege von
Kleinstdarstellern und Komparsen, die einen nie versiegenden
Strom skurriler Anekdoten ("Je ne travaille pas dimanche"), stimmungsvoller Bilder,
unerwarteter Tricks, hinreißender Ideen und
humorvoller Details mit immer wimmelndem Leben füllen
und so ungleich mehr Tiefe und Kontur bekommen als mancher hauptdarstellende
Hollywood-Heros. Zwischendurch macht sich ein Sprecher aus
dem Off einen Spaß, in typisch französischer
Weise Jahreszahlen so schnell wie möglich auszusprechen
und den Rest seines Textes mit so überwältigender
Geschwindigkeit vorzutragen, wie die Einfälle einander
jagen. Fast möchte man ausnahmsweise die
Synchronisation empfehlen, wenn englische Wörter in
Amélies Fernseher französisch untertitelt werden
und alles zusammen von deutschen Untertiteln gefolgt wird,
oder wenn man eigentlich französisch versteht, aber
nicht in dem Tempo, und so seltsamerweise nur dann
wirklich versteht, was gesprochen wird, wenn man die
Untertitel liest, das Gesprochene hört und im Geiste
hin- und zurückübersetzt. Ein-Mann-Türmen zu
Babel sei ein zweiter Besuch von Le fabuleux destin
d'Amélie Poulain daher ebenso anempfohlen wie
allen, denen die charmanten Scherze gar zu schnell vorbeigezogen sind. Ein Schelm, wer darin eine kühle Strategie Jeunets vermutet, die Zuschauer
mehrfach ins Kino zu locken. Dafür reichen schon so
lebensfrohe Bilder wie "Quinze", Amélies Einbruch in
Collignons Wohnung, die Frau im Koma, Ninos Zukunft im
Kaukasus oder der "senile" Fahrkartenstempler, die
Jean-Pierre Jeunets Film zu einem unvergeßlich
beschwingten, liebevollen und verzückend-einmaligen
Stück Kino machen, 2001 in Paris. Ausgerechnet.
1/2 von
5 Sternen.
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